Ich habe Angst, dass ich die letzte Seite des Buches umschlage. Denn dann wäre es zu Ende. Es ist dermaßen berührend, dass ich es immer wieder aus der Hand legen muss. Um zu reflektieren, um das gerade Gelesene zu verarbeiten, um mir vorzustellen, was jedes einzelne Wort für die Protagonisten der 18 Erzählungen bedeutet. Vielleicht um nachzufühlen, vielleicht auch um etwas zu weinen.
Was ist Menschlichkeit? Was sind Helden? Tim Pröse präsentiert sein literarisches Werk „Jahrhundertzeugen“ über Menschen und die deutsche Geschichte, die ihre dunkle Seite nicht verbergen kann. Ein Ereignis der vergangenen Zeit, das nicht widerstandslos blieb – 18 Vorbilder und Hoffnungsträger für unsichere Zeiten. Ein Werk, das lange nachhallt.
18 Begegnungen, die berühren
Das Buch habe ich zufällig beim Stöbern in meiner Buchhandlung entdeckt und kurzerhand mitgenommen. Ich interessiere mich persönlich sehr für die „menschliche“ Seite des 2. Weltkrieges – aus Sicht beider Seiten. Was haben Menschen erlebt, wie geben sie Erlebtes wieder? Welche Erinnerungen können sie nicht vergessen? Sind sie „Täter“ oder „Opfer“? Gab es diese Unterscheidung im 2. Weltkrieg denn so genau?
Besonders angesprochen hat mich beim vorliegenden Buch, dass dieses aus 18 einzelnen Begegnungen besteht, die nicht unbedingt aus Sicht der Betroffenen geschildert sind, sondern auch durch nahe Verwandte. Jedem einzelnen Portrait ist aber eines gemein: sie berühren. Sie machen traurig, spenden aber auch Hoffnung. Ein Buch „gegen Hitler“ – wie Pröse selbst anbringt, das Widerstandskämpfer, Holocaust-Überlebende, Menschenretter und ihre Hinterbliebenen zu Wort kommen lässt. Es gab sie wirklich, die Menschen, die in der dunklen Zeit ihre Menschlichkeit nicht versteckten und vergaßen. Sie haben für ihre Ideale gekämpft.
Jurek Rothenberg trifft Berthold Beitz: „Ich bedanke mich“
Gleich das erste Portrait ist es, das mich immer wieder begleitet und detailreich erhalten blieb: Jurek Rothenberg trifft auf seinen „Retter und Helden“ Berthold Beitz, den Generalbevollmächtigter Alfried Krupp von Bohlen und Halbachs. Als junger Direktor einer Erdölfirma im polnischen Boryslaw rettete er während des zweiten Weltkrieges mehrere hundert jüdische Zwangsarbeitern das Leben, indem er sie als unentbehrlich einstufte. Darunter auch der damals 14-Jährige Jurek Rothenberg. Im Jahr 2013 trifft er in Essen auf seinen ganz persönlichen Retter und Helden Berthold Beitz wieder. Seine andächtigen Worte und Gesten sind es, die ihn so bewundernswert machen. Jurek Rothenberg kehrte nicht nur gerne nach Deutschland zurück, am Ende blieb er sogar für immer. Auch Berthold Beitz, der lange Zeit über seine persönlichen Erlebnisse schwieg, zeigt sich in Gesprächen mit Tim Pröse unglaublich offen und die Schwere der Last scheint groß und unvergessen.
Unvergessen auch Inge Aicher-Scholl, die sehr privat über ihre Geschwister Sophie Scholl und Hans Scholl spricht, die der Studentenbewegung „Weiße Rose“ angehörten und 1943 unter der Fallschwertmaschine starben oder Kurt Keller, der mit seiner Frau noch einmal an den Omaha Beach in Frankreich, an dem er am D-Day kämpfte und das Erlebte bis heute verarbeitet, zurückkehrte. Interessant auch Hans-Erdmann Schönbeck, früher deutscher Offizier in Stalingrad und später Widerstandskämpfern, schildert seine Erlebnisse um „Operation Walküre“ am 20. Juli und wie er überlebte – die Zeilen ließen sich wie selbst füllen.
Alle Begegnungen in Kürze
- „Herr Direktor, ich bedanke mich“ – Jurek Rotenberg sieht seinen Retter Berthold Beitz wieder.
- „Sie löste sich vom Leben mit einem Lächeln“ – Inge Aicher-Scholl über ihre Schwester Sophie.
- „Nachts träume ich vom Fallbeil“ – Fanz J. Müller kämpfte in der Weißen Rose.
- „Mein längster Tag“ – Kurt K. Keller kehrt noch einmal an den Omaha Beach zurück.
- „Das ist derselbe Mond wie daheim“ – Wie Hans-Erdmann Schönbeck Stalingrad und den 20. Juli überlebte.
- „Ich habe ihn heiß geliebt“ – Zeitzeugen erinnern sich an Graf Stauffenberg – und sein Sohn an den Vater.
- „Du musst es tun!“ – Zu Besuch bei Ewald-Heinrich von Kleist, der Hitler töten sollte.
- „Auch wenn alle es tun – ich nicht“ – Freiherr von Gersdorff, Baron von Boeselager und die Bombe.
- „Das Leben stellt sich zwischen jedes Leid“ – Klaus von Dohnanyi über seinen Vater Hans und Dietrich Bonhoeffer.
- „Ich versuche jeden zu retten“ – Wilm Hosenfeld, der Held aus »Der Pianist«, und sein Sohn.
- „Ich bin stolz, ein Elser zu sein“ – Franz Hirth, der Neffe des Hitler-Attentäters Georg Elser, erinnert sich.
- „Ich atme Hoffnung“ – Michael Emge, der Letzte von Schindlers Liste, über seinen Retter.
- „Warum hat er mich bloß alleine gelassen?“ – Ein Treffen mit Emilie Schindler.
- „Wir waren zwei Wildfänge“ – Mit Anne Franks Cousin Buddy Elias in Bergen-Belsen.
- „Du kannst hierbleiben, Hansi“ – Wie sich Hans Rosenthal vor dem Holocaust in einem Schrebergarten versteckte.
- „Ich habe überlebt, er nicht!“ – Edgar Feuchtwanger im Haus seines alten Nachbarn Hitler.
- „Es gibt etwas, das kann man nicht vernichten“ – Yehuda Bacon trotzt bis heute Auschwitz.
Tim Pröse im Interview
Angaben zum Buch „Jahrhundertzeugen“
Titel: Jahrhundertzeugen. Die Botschaft der letzten Helden gegen Hitler. 18 Begegnungen.
Autor: Tim Pröse
Verlag: Heyne
Seitenzahl: 320
Jahr: 2016
Preis: 19,99 €
Klappentext: VORBILDER UND HOFFNUNGSTRÄGER FÜR UNSICHERE ZEITEN
Berthold Beitz oder Emilie Schindler, Anne Franks letzter Verwandter Buddy Elias oder Sophie Scholls Schwester: Dieses Buch zeichnet 18 Begegnungen mit Widerstandskämpfern, Holocaust-Überlebenden, Menschenrettern und deren Hinterbliebenen auf. Ihre besonderen Lebenswege beeindrucken gerade in unserer so unruhigen Zeit. Denn sich gegen Hitler zu stellen, zu überleben und immer wieder aufzustehen, macht Mut für den Umgang mit Terror und Krieg, Flucht und Vertreibung – Themen, die heute wieder aktueller denn je sind.
Zum Autor
Tim Pröse, geboren 1970 in Essen, ist Autor und Journalist in München. Er war Chefreporter der Münchner Abendzeitung und vierzehn Jahre Redakteur des Focus in den Ressorts »Menschen« und »Reportage«. Seine einfühlsamen zeitgeschichtlichen Porträts wurden mit dem »Katholischen Medienpreis« ausgezeichnet.
Fazit: Das Besondere
„Jahrhundertzeugen“ vereint vielerlei Aspekte, die das Werk unbedingt lesenswert machen. Es ist die Fülle an authentischen Begegnungen, die Tim Pröse selbst erfahren konnte (Neid), die abwechslungsreich dokumentieren, welch unvorstellbaren Zustände vor rund 70 Jahren herrschten. All das hielt mutige Menschen, die für ihre Rechte eintraten, nicht davon ab, still oder offen Widerstand zu leisten, wohlwissend, dass dies den Tod bedeuten kann. Die Berichte zu den „Hoffnungsträgern“ werden mit Wahrnehmungsperspektiven naher Angehöriger ergänzt und eröffnen uns neue Sichtweisen. Meine Bewunderung nicht nur den Akteuren, die offen ihre tiefen Gedanken und Erinnerungen teilen, sondern auch an Tim Pröse, der diese Begegnungen einfühlsam und sicher auf Papier brachte und vor allem jahrelang verfolgte. Gelungen und reich an Emotionen schafft er seine enge Verbindung und die Vertrautheit zu Porträtierten in wohlüberlegte Sätze zu formen und den Respekt für sein Gegenüber zu wahren.
Für mich auch erstaunlich: Wie hat Hitler es geschafft so vielen geheimen Attentaten und gut geplanten Anschlägen zu entgehen? Es gab zahlreiche Versuche ihn zu töten, keiner konnte erfolgreich durchgeführt werden – und das meist nur durch kleine ungünstige Augenblicke oder Zufälle.
Das letzte und abschließende Kapitel regt zum Nachdenken an. Tim Pröse versetzt uns in die heutige Zeit und schildert wie aktuell das Thema Holocaust noch ist. Wie gehen Menschen aktuell mit das Gedächtnis des Holocaust und deren Opfer um? Das Thema ist brisanter denn je und lässt (noch) keine Ruhe zu.
Grandiose Arbeit, die ich so schnell nicht vergessen werde.